Wege in die Illegalität

Seit dem Asylkompromiss 1993, aber spätestens seit dem Sommer der Migration 2015, gibt es eine kontinuierliche Aushöhlung des Asylrechts in der Bundesrepublik. Ziel dieser Verschärfungen ist es, für große Gruppen Geflüchteter jede Perspektive auf ein halbwegs gesichertes Leben zu verhindern. Zentrale Lagerunterbringung, Arbeitsverbote, verschärfte Residenzpflicht, die Einführung von Anker-Zentren, die Erklärung von Staaten zu sogenannten sicheren Herkunftsländern, unangekündigte Abschiebungen, die Ausweitung der Abschiebehaft und viele weitere Maßnahmen sind die Folge der Verschärfungen.

Entrechtung, mehr Haft, ein Verdrängen aus Deutschland durch Entzug von Sozialleistungen und die Verunsicherung von anerkannten Geflüchteten durch die Verlängerung der Frist für Widerrufsverfahren auf fünf Jahre erhöhen den Druck auf alle Geflüchteten.
In anderen EU-Mitgliedstaaten anerkannten Geflüchteten sollen, laut dem „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“, Leistungen nach zwei Wochen komplett gestrichen werden. Die Rückkehr in Staaten wie Italien, Griechenland und Bulgarien soll mit Hunger und Obdachlosigkeit durchgesetzt werden. Dort leben anerkannte Geflüchtete oft unter miserablen Bedingungen, wie zahlreiche Organisationen dokumentiert haben.
Die Voraussetzungen für die Anwendung der Abschiebungshaft werden gelockert, um mehr Menschen inhaftieren zu können. Zum einen kann den Geflüchteten teilweise schlicht unterstellt werden, dass bei ihnen „Fluchtgefahr“ vorläge (durch eine sogenannte widerlegliche Verm

utung). Sie müssen dann aus der Haft heraus das Gegenteil beweisen, aber bekommen noch nicht einmal – wie im Strafrecht vorgesehen – einen Anwalt oder eine Anwältin gestellt. Außerdem sollen schon fast banale Aspekte als Indiz für „Fluchtgefahr“ dienen, wie beispielsweise das Zahlen einer gewissen Geldsumme, um nach Deutschland zu kommen (auf wen trifft das nicht zu?) oder das Angeben von falschen Informationen – selbst wenn dies längere Zeit her und mittlerweile korrigiert ist. Das ist eine enorme Verschiebung zu Ungunsten der Geflüchteten. Inhaftierung ist schließlich der stärkste Eingriff in das Recht auf Freiheit. (Link: Human rights)

Eine solche kontinuierliche Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl führt dazu, dass die Solidarität der Zivilgesellschaft kaum mehr wirksam sein kann. Auch Versuche, Geflüchtetensolidarität zu kriminalisieren – wie bei Anzeigen gegen Pfarrer*innen, die Kirchenasyl anbieten oder Strafverfahren gegen Behördenmitarbeiter*innen, die Abschiebetermine bekannt geben – führen dazu, dass die Unterstützung von Geflüchteten erschwert wird.

Info: Dublin-Verordnung
Entsprechend der Dublin-Verordnung sollen Menschen in das europäische Land abgeschoben werden, in dem sie zuerst registriert wurden. Doch in vielen Ländern, wie zum Beispiel in Italien oder Ungarn, kommen Geflüchtete entweder direkt ins Gefängnis oder müssen sich auf der Straße durchschlagen. Oftmals droht zudem die Gefahr einer Kettenabschiebung, wie z.B. in Norwegen. Wenn Menschen, ursprünglich aus Afghanistan kommend, von Deutschland nach Norwegen abgeschoben werden, sorgt Norwegen wiederum dafür, dass sie sofort weitergeschickt werden, und zwar zurück nach Afghanistan.
Es gibt jedoch die Möglichkeit, dass Menschen, denen eine Abschiebung im Rahmen der Dublin-Regelung droht, sich für 18 Monate in die Illegalität zu begeben. Wenn die Person das Land in dieser Zeit nicht nachweislich verlässt, ist Deutschland nach diesen 18 Monaten verpflichtet den Asylantrag zu bearbeiten und kann das Verfahren nicht mehr an das EU-Land der ersten Registrierung überstellen.

Ein wesentlicher Grund für die Verschärfungen ist, neben der Abschreckungswirkung, die effektivere Durchsetzung von Abschiebungen. So hat die Anzahl der Dublin-Überstellungen in andere europäische Ersteinreiseländer enorm zugenommen: 2018 waren 9200 von 23 600 Abschiebungen Dublin-Überstellungen. Die meisten Menschen wurden nach Italien (2800 Personen), Frankreich (453 Personen) und Polen (690 Personen) abgeschoben. (Quelle: Wilcke, Holger (2018): Illegal und unsichtbar? Papierlose Migrant*innen als politische Subjekte.)
Vor dem Hintergrund dieser massiven Kraftanstrengung der Behörden für erfolgreiche Abschiebungen sehen sich immer mehr Menschen dazu gezwungen, sich einer Abschiebung zu entziehen und in der Illegalität zu leben.

Allerdings ist es schwierig bis unmöglich, genaue Zahlen darüber zu finden, wie viele Menschen sich ohne gültige Papiere in Deutschland aufhalten. Es gibt bisher sehr wenige Untersuchungen zum Thema „Leben in der Illegalität“.
Mareike Tolsdorf (2008) gab vor zehn Jahren die Zahl Illegalisierter in der Bundesrepublik Deutschland mit 100.000 bis 1,5 Millionen an. Die Schätzungen gehen auch in anderen Studien sehr weit auseinander, auch weil die Definition der Gruppe Illegalisierter nicht eindeutig ist. Es gibt verschiedene Wege, wie Menschen in Deutschland in die Illegalität geraten.
Wenn Menschen ohne einen deutschen Pass oder ein gültiges Visum die Grenze überschreiten und sich dann als Asylsuchende melden, halten sie sich legal im Land auf, solange bis die Behörden ihnen einen Aufenthaltsstatus gewähren.
Einige Menschen kommen in Deutschland an, melden sich jedoch bei keiner Behörde, da sie bereits wissen, dass sie keine Chance auf eine Aufenthaltsgenehmigung haben, z.B. weil sie aus einem sogenannten “sicheren Herkunftsland” kommen und damit kategorisch eine Ablehnung ihres Asylantrages erhalten würden.
Wenn bei Menschen, die sich gemeldet haben, der Aufenthaltsstatus abläuft bzw. nicht verlängert wird und sie dann das Land nicht verlassen und/oder sich ihrer Abschiebung entziehen, begeben sich diese Menschen ebenfalls in die Illegalität. Am häufigsten geschieht dies bei einer drohenden Abschiebung im Rahmen der Dublin-Verordnung.

Einige Menschen reisen mit einem Touristenvisum ein und verlassen das Land nach Ablauf ihres Visums nicht mehr. Auch dann leben diese Menschen illegalisiert. Hier gibt es ebenso wie bei Menschen, die z.B. die Mitwirkung an ihrer Abschiebung in ihr Herkunftsland verweigern, keine bestimmte Frist, die ablaufen muss, um in Deutschland wieder legal Fuß fassen zu können.
Dass sich Menschen für ein Leben (fast) ohne jegliche Rechte in Deutschland entscheiden, um nicht in ihr Herkunftsland zurück zu müssen, ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass Menschen sich nicht grundlos auf die Flucht begeben und alles, was sie haben, aufgeben und zurück lassen.